Lob von der F.A.Z., 28 September 2020
Falls er für seine Social-Media-Aktivitäten oder Ähnliches mal einen neuen Slogan benötigte, würde dieser passen: Wenn’s ums Treten geht – Wout Van Aert. Nun ist es der Job des Belgiers, hart in die Pedale zu treten. Aber dass er es wahlweise immens schnell, enorm explosiv und extrem ausdauernd kann, macht Van Aert im Radsport zu einem Unikat.
Und die in der Szene weitverbreitete Prognose, dass der Belgier auf Jahre eine der dominierenden Kräfte im internationalem Räderwerk bleiben wird, klingt nicht allzu forsch. Denn Van Aert ist ein radelnder Alleskönner, ein Multitalent im Sattel, was die Konkurrenz seit Saison-Wiederbeginn leidvoll erfahren musste. Denn Van Aert lässt seit August nicht viel übrig bei den Rennen, bei denen er auf Sieg fährt. Auf allen Terrains. Wie einst Hinault.
Der Klassiker-Spezialist in ihm hat bei den harten Eintagesrennen Strade Bianche und Mailand–Sanremo triumphiert. Der Sprinter in ihm hat zwei Etappen bei der Tour de France und eine bei der Dauphiné-Rundfahrt gewonnen. Der Zeitfahrer in ihm hat den belgischen Meistertitel und am Freitag Silber bei den Weltmeisterschaften in Imola errungen. Eindrucksvolle Kostproben des Bergfahrers in ihm hat er unlängst bei der Frankreich-Rundfahrt geliefert, als er seinen Kapitän beim Team Jumbo-Visma Primoz Roglic noch steilste Passstraßen hoch eskortierte, als einige der stärksten Kletterer schon abgehängt waren. Sein deutscher Teamkollege Tony Martin sagte der Frankfurter Allgemeinen Zeitung: „Wout ist der kompletteste Rennfahrer im Feld, vielleicht sogar der kompletteste Profi, mit dem ich je gemeinsam fahren durfte. Er hat eine große Zukunft vor sich.“
In welche Schublade man im Radsport auch greift, Van Aert gehört zu den Besten. Und das in einer an sich hochspezialisierten Branche mit großer Leistungsdichte, in der die Berühmtheiten keine Allrounder sind, sondern die Stärksten in ihren Nischen. Der Letzte von Van Aerts Art war wohl der große Bernard Hinault.
Am Sonntag, beim 252 Kilometer langen und 5000 Höhenmeter schweren WM-Straßenrennen, fehlte den Experten denn auch die Phantasie, sich eine Rennkonstellation vorzustellen, in der Van Aert nicht gewinnen könnte. Und doch kam es anders: Der Franzose Julian Alaphilippe nahm am letzten Anstieg Reißaus und ließ sich selbst von Van Aert und seinem starken belgischen Team nicht mehr einholen. Als dann die verbliebene Gruppe der Favoriten die Zielgerade erreichte und Van Aert an der Spitze der Gruppe im Wind beschleunigte, war allen klar: Hier geht es nur noch um Bronze. Mit zwei Silbermedaillen bei diesen Weltmeisterschaften mochte sich Van Aert, der wohl fest mit dem Gewinn eines Regenbogentrikots gerechnet hatte, aber nicht anfreunden. „Ich bin enttäuscht. Zweiter zu werden ist schmerzhaft. Zweimal Silber trifft mich hart“, sagte der 26-Jährige. Was beweist, dass sein Weg im Expresstempo vom Lehrling zum möglichst alles verschlingenden Siegfahrer nicht nur in den Beinen, sondern auch im Kopf abgeschlossen ist. Denn Van Aert zielt noch nicht lange ausschließlich auf Erfolge auf Asphalt, noch 2018 wurde er (zum dritten Mal in Serie) Weltmeister im Radcross.
Er und auch weitere Fahrer haben jüngst nachhaltig bewiesen, dass eine Rad-Ausbildung im Gelände ideale Bedingungen für eine große Straßenkarriere bieten kann. Womöglich wäre Van Aerts Aufstieg zu einem Machtfaktor im Peloton schon früher erfolgt. Doch ein schwerer Sturz bei seinem Tour-Debüt im vergangenen Jahr setzte ihn monatelang außer Gefecht.
Grünes Trikot als Beute oder doch Gelb?
Vor etwas mehr als einem Jahr war er buchstäblich am Boden zerstört, nun wird darüber geredet, wo seine Grenzen überhaupt liegen könnten. Das Grüne Trikot des besten Sprinters bei der Tour de France wäre vermutlich eine leichte Beute für Van Aert, wenn er von Helferaufgaben entbunden wäre. Und greift er, der alles kann, irgendwann auch nach Gelb? Eine Umschulung zum reinen Klassementfahrer mit der entsprechend nötigen Körpergewichtsabnahme habe für ihn keine Priorität, lässt Van Aert wissen.
©F.A.Z.
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